Der Abend
Liebe Mitchristen, der Abend hat es in sich. Ich mag diese Tageszeit besonders gern. Wenn sie nicht durch irgendwelche (oft langweilige) Sitzungen und Besprechungen blockiert ist, kann ich bei einem Glas Rotwein zu einem Buch greifen oder ein Musikstück hören. Der Abend ist bei den Träumen angesiedelt. Ich muss nichts mehr leisten, ich darf aufatmen und mich besuchen. Karl Valentin meint: „Hoffentlich bin ich daheim!“
Der Abend trägt aber auch eine religiöse Dimension in sich. „Vesper“ lautet das Abendlob der Kirche. Das Wort hat nichts mit der wohlverdienten abendlichen Brotzeit zu tun, es bedeutet wörtlich „Abendstern“. Aus einer der vielen Vesperhymnen darf ich Ihnen zwei Verse zitieren: „Angelangt an der Schwelle des Abends, schauen wir Christus, das ewige Licht, und preisen durch ihn den Vater im Geist.“ Und „Ja, es ist würdig dich zu besingen, Gottes Sohn, Urheber ewigen Lebens; die ganze Schöpfung schuldet dir Lob.“
Der Hymnus birgt eine ganze Theologie des Abends in sich: Christus ist der Abendstern, das ewige Licht, welches das Dunkel unseres Lebens erhellt. In einem liturgischen Wörterbuch steht – erinnernd an die brennenden Kerzen bei der Feier der Vesper: Die Vesper ist Lob für und Bitte um das Licht. Zugleich besingt die Gemeinde in der Vesper das „Licht vom Lichte“, Christus, und bittet um sein Kommen.
An dieser Stelle darf ich Sie ermuntern, für den Abend ein Ritual zu finden, etwa eine Kerze anzuzünden, auf den Tag zurückzublicken und den Tag bewusst mit einem Gebet abzuschließen. Das könnte noch vor der Tagesschau geschehen. Nachher – wenn Sie das Abendprogramm des Fernsehens in Beschlag nehmen sollten und Sie der Einschaltquote Ihrer Lieblingssendung den Tribut zahlen möchten – dürfte unter Umständen das Abendritual der Müdigkeit zum Opfer fallen.
Mit allen guten Wünschen für eine Zeit, in der die Tage kürzer und die Abende wieder länger werden grüße ich Sie.