Ankunft
„Vorweihnachtszeit vor vier Jahren. Seit langem will ich Weihnachten mal wieder im Elternhaus verbringen, einen Hauch des Kindheitszaubers atmen. Aber es klappt ja nie, so viel zu tun. Ich rufe meine Mutter an, um ihr das zu sagen und dass ich nach Neujahr bei ihr sein werde. Sie ist nicht überrascht, nicht enttäuscht, sagt nur, dass wir uns dann leider nicht mehr sehen können. Ich weiß sofort, was das bedeutet. Umgehend buche ich für die Heimreise und kurze Zeit später sitzen wir im vertrauten, schlichten Wohnzimmer, die Kerzen am Adventskranz brennen, wir essen und trinken und plaudern, es ist so gemütlich wie immer. Wir wissen, dass wir das wahrscheinlich zum letzten Mal genießen können. Meine Mutter singt: `Guten Abend, gut' Nacht, mit Rosen bedacht …´ So hochbetagt, wie sie ist, so überstrebend ist ihre Lebensfreude – und ihr Einverstandensein damit, dass dieses Leben eine Grenze hat. Der Abschied ist ganz leicht. Zurück in Berlin, greife ich zum Telefon und lasse es dreimal klingeln, das vereinbarte Zeichen, dass wir gut angekommen sind. Das schärfte sie mir immer ein, im unnachahmlichen Dialekt der Heimat in Bayrisch-Schwaben: `Duasch bloß en Dupfer!´Tu nur einen Tupfer. Wenige Tage vor Weihnachten ruft mich mein jüngerer Bruder an. Auch er muss nicht viel sagen. Und so tragen wir sechs Geschwister unsere geliebte Mutter am Tag vor Heiligabend zu Grabe. Das traurigste Weihnachten, das ich je erlebt habe. Im Stillen bitte ich meine Mutter, sie solle, wenn sie drüben ankommt, ein Zeichen geben: `Duasch boß en Dupfer!´ Und tatsächlich – beim `Leichenschmaus´ fällt im Gasthaus plötzlich der Weihnachtsbaum um. Keine Verletzten, nur eine klare Ansage: `Ich bin angekommen´. Danke, Mutter.
Nach Willhelm Schmid
Viele Menschen sind in diesen Tagen, auf der inneren Suche, nach dem was bleibt, was uns trägt und stärkt. Gerade Menschen, die sich von einem Partner, einem Elternteil, einem geliebten Menschen verabschieden müssen, sind unter den aktuellen Umständen, persönlichen Kontakt reduzieren zu müssen, in unmenschlicher Weise belastet. Wie können wir damit umgehen? Ist ein menschengerechter Umgang in einer solchen Situation überhaupt möglich?
Oft sind es nur die kurzen Momente, in denen wir menschliche Nähe erfahren und oft sind es gerade diese kurzen Momente, in denen diese menschliche Nähe besonders intensiv ist. Wirkliche Nähe braucht nicht der vielen Worte. Und die Begrenztheit lässt diese Zeit, wie in unserer Geschichte, sehr wertvoll werden.
Wir sagen von einem Sterbenden, dass er „das Zeitliche segnet“. Das ist ein schönes Bild. Wir vertrauen darauf, dass der Sterbende durch seinen Tod für uns zum Segen wird. Er wird für uns zum Segen, wenn wir uns fragen, was er für uns bedeutete, was seine Botschaft an uns war, an uns ist. Was wollte der Verstorbene in seinem Leben ausdrücken, was wollte er uns vermitteln? Woraus schöpfte er seine Kraft? Welche Kraft hat ihm der Glaube gegeben?
Vielleicht laden uns gerade die Tage um Weihnachten in diesem Jahr dazu ein, uns mit den Menschen zu beschäftigen, die bei uns waren und noch mehr mit den Menschen, die bei uns sind, damit sie zum Segen werden für uns: Unsere Gemeinschaft besteht aus unserer Familie, und aus deren Wurzeln, unseren Vorfahren. Wenn wir an Weihnachten mit unserer Familie feiern, dann fühlen wir uns getragen. Da stehen viele hinter uns und stärken uns den Rücken. Gerade heute, in einer Zeit, in der so viele vereinzelt und einsam sind.
Das Bewusstsein, Teil einer Familie zu sein, stärkt uns. „Ohne Wurzeln keine Flügel“ – so drückt es ein Psychologe aus. Und Wurzellosigkeit ist oft der Grund für Depressionen. Der Baum, der keine Wurzeln hat, verdorrt, sobald es Krisenzeiten gibt. Daher ist es heilsam, auch an Weihnachten an die Wurzeln zu denken. Rituale helfen uns dabei. Indem wir die gleichen Rituale feiern, wie unsere Großeltern, Urgroßeltern, haben wir Anteil auch an ihrer Glaubenskraft.
An Weihnachten können Sie mal bewusst das Vaterunser meditieren. Stellen Sie sich vor, dass der verstorbene Vater, die verstorbene Mutter, die verstorbenen Großeltern, dieses Gebet gebetet haben, wie es sie durchgetragen hat durch Zeiten des Krieges, der Armut, der Krankheit, des Leids. Vielleicht erinnern sie sich noch an den Tonfall, mit dem die Verstorbenen es gebetet haben. Ich selber erinnere an meinen Großvater, wie existenziell für ihn die Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ war, nachdem er nach langer Zeit aus dem Krieg über viele Umwege nach Hause gekommen war. Und dass die Bitte „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ ihn davor bewahrt hat, zu verbittern. Wenn ich das Vaterunser bete, habe ich Teil am Glauben meines Großvaters.
So verbindet das Gebet Himmel und Erde, uns Lebende mit den Verstorbenen. Der Himmel öffnet sich über unserem Gebet.