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Die Tomaten sind schwach

Tomaten
Datum:
Veröffentlicht: 17.5.20
Von:
Josef Ellner, Pastoralreferent
Die Tomaten sind schwach: Sie haben keine Waffen. Sie waren im Kämpfen nicht ausgebildet. Sie waren verstreut. Sie haben keinen Anführer. Sie haben keinen Schutz. Verdutzt lese ich diese Zeilen auf dem Papier noch einmal. Und noch einmal. Darunter, handgemalt, eine große reife Tomate, feuerrot. Ein gewitzter Streich? Thema verfehlt, Note 6? Denn gefragt war im Rahmen einer Religionsprobearbeit der 3. Klasse nach einer Bevölkerungsgruppe im frühen Israel: die Nomaden.

Die Tomaten sind schwach:
Sie haben keine Waffen.
Sie waren im Kämpfen nicht ausgebildet.
Sie waren verstreut.
Sie haben keinen Anführer.
Sie haben keinen Schutz.

Verdutzt lese ich diese Zeilen auf dem Papier noch einmal. Und noch einmal. Darunter, handgemalt, eine große reife Tomate, feuerrot.
Ein gewitzter Streich? Thema verfehlt, Note 6? Denn gefragt war im Rahmen einer Religionsprobearbeit der 3. Klasse nach einer Bevölkerungsgruppe im frühen Israel: die Nomaden.
Schwerhörig war der Schüler nicht, meine Aussprache nebst Tafelanschrift in der letzten Stunde waren deutlich und gewissenhaft. Nun, wir einigten uns auf Note 2+, nicht nur der gelungenen Zeichnung wegen, sondern auch für das gezeigte Transfervermögen: Von der Situation eines Volksstammes zur Verletzlichkeit einer besonderen pflanzlichen Lebensform, die des sogenannten Paradiesapfels. Auch theologisch gesehen ist das ein galanter Querverweis!

Die verbotene Frucht in der Genesisgeschichte war höchstwahrscheinlich eben kein Apfel, sondern eher eine Tomate. Mit „Paradeiser“, „Goldäpfel“, „Pomodori“ etc… gibt es reichlich sprachliche Verweise auf die verführerische süße Erscheinung im Paradies. Ein zartes Gewächs ist sie, frostempfindlich, von ihren Fans gehätschelt, gemulcht, überdacht. Und manche zimmern dafür ganze Häuser!

Die Sortenvielfalt ist inzwischen unüberschaubar, das Paradies selbst dagegen für immer aus dem Blick. Unter der Rubrik „paradise lost“ werden bestenfalls noch frühere Zeiten beschworen, Verfehlungen interpretiert oder Vorwürfe ersonnen. Nur verrückte Träumer lassen nicht ab von der Suche nach jenem perfekten Garten.

Doch solang die Existenz und die Lage des Paradieses unklar bleibt, halte ich mich an meine Liebste. Und an Tomaten.