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St. Martin:„Wir brauchen einen Systemwechsel“

Pfarrer i.R. Matthias Wünsche stand als Sprecher des Betroffenenbeirats im Erzbistum Bamberg dem Gottesdienst vor.
Datum:
Veröffentlicht: 8.12.23
Von:
Marion Krüger-Hundrup

Können Betroffene von sexuellem Missbrauch durch Priester, Ordensangehörige und Mitarbeitende der Kirche überhaupt noch beten? Haben sie diesen Themagottesdienst am Sonntagabend in der St. Martins-Kirche nicht als „Klatsche“ empfunden? Gemeindereferentin Stephanie Eckstein gebrauchte diesen drastischen Ausdruck, wissend, dass sich Betroffene unter den vielen Gottesdienstbesuchern eingefunden hatten. Mitten drin auch Diözesanadministrator Weihbischof Herwig Gössl: Schlicht im Mantel, ernst, mitbetend.

Gemeindereferentin Eckstein und Monika Rudolf, Präventionsbeauftragte des Erzbistums Bamberg, hatten diese Eucharistiefeier vorbereitet. Anlass war der weltweite Gebetstag für Betroffene sexuellen Missbrauchs, den Papst Franziskus 2016 angeregt hatte. Für Deutschland haben die Bischöfe festgelegt, dass dieser Gebetstag von den Kirchengemeinden rund um den 18. November, den „Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch“, begangen werden soll. Pfarrer i.R. Matthias Wünsche, Sprecher des Betroffenenbeirats im Erzbistum Bamberg, hatte den Leitenden Pfarrer des Seelsorgebereichs Bamberger Westen, Helmut Hetzel, gefragt, ob ein solcher Gottesdienst in St. Martin stattfinden könnte. Dieser und das gesamte Pastoralteam stimmten ohne jede Vorbehalte zu.

Achtsam gewählte Texte und Fürbitten versuchten, das an sich Unfassbare greifbar werden zulassen: Als einen wichtigen Teil der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt – auch in Familien, Einrichtungen, Verbänden, Vereinen. Denn – so zitierte Monika Rudolf zu Beginn aus der jüdischen Tradition: „Vergessen wollen verlängert das Exil. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Heiße denken an die Betroffenen.

Als sichtbares Zeichen dieses Gedenkens brannten 180 Kerzen vor dem linken Seitenaltar mit dem großen Kruzifix. 180 Kerzen für 180 Menschen, die durch Priester, Ordensangehörige und Mitarbeitende in der Erzdiözese Bamberg Opfer von sexualisierter Gewalt wurden, und von denen das Erzbistum weiß. „Die Dunkelziffer ist höher!“ erklärte die Gemeindereferentin und lud dazu ein, im Laufe des Gottesdienstes weitere Kerzen anzuzünden als Zeichen, dass an Menschen gedacht werde, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind oder waren. Das geschah dann auch.

Matthias Wünsche selbst stand diesem Gottesdienst vor, unaufgeregt in aller eigenen Betroffenheit durch einen Täter, „einen talentierten Menschen im Zwielicht, der andere um sich herum auch kräftig manipuliert und Lustgewinn aus seinem Verhältnis zu Jugendlichen gezogen hat“. Der Täter sei längst verstorben. Die Jahre würden vergehen, die Betroffenen meist ganz sprachlos: „Die Geschädigten haben immer noch keine Stimme“, beklagte Prediger Wünsche. Währenddessen glänze bei den Tätern und ihren Talenten der Ton ihrer Nachrufe, vieles andere Tun lande unter dem Teppich oder im sprichwörtlichen Keller.

Der Gedenktag für die Opfer sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche sei ein wichtiger Schritt, der der Selbstverpflichtung der Kirche entspreche, so Wünsche: „Wir stellen uns auf die Seite der Geschädigten, wir lassen keine Bagatellisierung zu. Wir beschönigen nichts, wir brauchen Systemwechsel.“ Prävention, Intervention und Aufarbeitung mit Aufdeckung der Taten bis hin zur Entschädigung der Opfer sei Aufgabe der Kirche: „weltweit und auch ganz lokal“, betonte Wünsche.

Der Intention des Gebetstages zur Folge sollte dieser auch dafür stehen, um Buße in der Institution sowie Neuausrichtung zu beten. Hätte die Bamberger Bistumsleitung jetzt also öffentlich Buße tun müssen für mögliches Versagen in diesem Themenkomplex? Auf die Frage des Fränkischen Tags gab Georg Kestel, Ständiger Vertreter des Diözesanadministrators, eine klare Antwort. Auch im Erzbistum Bamberg habe es schlimme Missbrauchsfälle gegeben, und es sei in den vergangenen Jahrzehnten nicht immer nach den heute geltenden Standards gehandelt und kommuniziert worden. „Die Bistumsleitung hat Fehler und Versäumnisse mehrfach eingeräumt, der damalige Erzbischof Ludwig Schick hat die Betroffenen auch öffentlich und in persönlichen Gesprächen um Vergebung gebeten", sagte Kestel. Alle Missbrauchsfälle müssten aufgebarbeitet werden. Ein Gedenktag oder ein Bußgottesdienst könne diese Aufarbeitung nicht ersetzen, sondern nur begleiten und ergänzen. Georg Kestel fügte hinzu: „Aufarbeitung und Gebet gehören für uns zusammen.“